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Anderweitige Rechtshängigkeit und Stellungsnahmechance bei Verdachtsberichterstattung

Das Oberlandesgericht München entschied am 9. April 2024 über die Zulässigkeit einer identifizierenden Verdachtsberichterstattung und die Frage der anderweitigen Rechtshängigkeit in parallelen Verfahren. Diese Entscheidung hat weitreichende Implikationen für die Praxis der Verdachtsberichterstattung in den Medien.

Das Urteil im Überblick

Im zugrundeliegenden Fall wehrte sich der Kläger gegen die Veröffentlichung von Artikeln in mehreren Online-Medien, die ihn im Zusammenhang mit strafrechtlichen Ermittlungen namentlich identifizierten. Der Kläger beantragte die Unterlassung der Berichterstattung, die seine Persönlichkeitsrechte verletze. Die Beklagte argumentierte, dass die Klage unzulässig sei, da die Ansprüche bereits in einem parallelen Verfahren rechtshängig seien, in dem die Veröffentlichung auf einer anderen Plattform des gleichen Verlags behandelt wurde.

Das Oberlandesgericht München wies die Berufung der Beklagten zurück und bestätigte das Urteil des Landgerichts München. Es stellte fest, dass keine anderweitige Rechtshängigkeit vorliege, da die Berichterstattungen in verschiedenen Medien unterschiedliche Streitgegenstände darstellen. Für die Bestimmung des Streitgegenstands sei es entscheidend, dass die Artikel auf unterschiedlichen Plattformen veröffentlicht wurden und damit unterschiedliche Lebenssachverhalte betroffen sind. Selbst wenn die Äußerungen in den Artikeln inhaltlich kerngleich seien, stelle die Publikation in verschiedenen Medien jeweils einen eigenen Streitgegenstand dar.

Das Gericht hob zudem hervor, dass die Beklagte vor der Veröffentlichung keine Stellungnahme des Klägers eingeholt hatte. Diese unterlassene Anhörung stelle eine Verletzung der journalistischen Sorgfaltspflichten dar und führe zur Unzulässigkeit der Berichterstattung.

Anmerkung

Die Entscheidung des Oberlandesgerichts München unterstreicht die Bedeutung der sorgfältigen Abgrenzung von Streitgegenständen in parallelen Verfahren, insbesondere beim Schutz von Persönlichkeitsrechten. Das Urteil verdeutlicht, dass identische oder kerngleiche Äußerungen, die in unterschiedlichen Medien verbreitet werden, als separate Streitgegenstände anzusehen sind. Dies hat erhebliche Auswirkungen auf die medienrechtliche Praxis, da die Rechtsprechung damit die Möglichkeiten der Presse einschränkt, durch die Publikation identischer Inhalte in verschiedenen Kanälen eine zusammengefasste rechtliche Behandlung zu erreichen.

Das Urteil betont zudem die strengen Anforderungen an die journalistische Sorgfaltspflicht bei der Verdachtsberichterstattung. Insbesondere die Verpflichtung zur Einholung einer Stellungnahme des Betroffenen vor der Veröffentlichung wird als zentral für die Wahrung der Persönlichkeitsrechte und der Unschuldsvermutung angesehen. Diese Verpflichtung gilt auch dann, wenn der Verdacht auf einer wahren Tatsache wie der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens beruht. Die Entscheidung setzt klare Grenzen für die Zulässigkeit solcher Berichterstattungen und stärkt den Schutz der betroffenen Personen vor voreiligen öffentlichen Vorverurteilungen, welche die Reputation des Betroffenen nachhaltig schädigen würden.

Für ähnliche Fälle bedeutet dies, dass Verlage und Medienunternehmen bei parallelen Berichterstattungen besonders sorgfältig prüfen müssen, ob unterschiedliche Streitgegenstände vorliegen und ob alle journalistischen Sorgfaltspflichten, insbesondere die Anhörung des Betroffenen, eingehalten wurden. Das Urteil dürfte daher weitreichende Konsequenzen für die Praxis der Medienberichterstattung haben, insbesondere in sensiblen Bereichen wie der Verdachtsberichterstattung.

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Weitere Informationen

Das vollständige Urteil können Sie hier herunterladen: LG München I, Urteil vom 20.07.2023 – 26 O 14735/22